1919

Das Jahr 1919

Am 1. Januar fand im Adlersaal eine Wahlversammlung der deutsch – demokratischen Partei statt, bei der Rechtsanwalt Dr. Hähnle aus Ulm als Redner auftrat. Am 11. Januar sprach Landwirtschaftslehrer Schmid aus Ulm zu den Wählern in der „Glocke“.
Am 12. Januar (Sonntag) wurden 150 Abgeordnete zur Landesversammlung gewählt. Hier wurden an Stimmen abgegeben für den Bauernbund 136, Sozialisten 102, Deutsch-demokratische Partei 54, Bürgerpartei 22, Unabhängige 1.
Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar wurden Stimmen abgegeben für den Bauernbund 139, Deutsch-Demokraten 73, Sozialisten 92. Wählen durften alle Erwachsenen (Männlein und Weiblein), die das 21 Lebensjahr zurückgelegt hatten.

Zu Anfang des Jahres brauchte einer, wenn man mit der Bahn fahren wollte (und wenn es nur nach Ulm oder Geislingen ging), einen Reiseerlaubnisschein, der vom Schultheiß ausgestellt wurde. Diese Vorschrift wurde damit begründet, es fehle der Bahn an der nötigen Kohle. Diese beengende Maßregel dauerte glücklicherweise nicht lange. Dafür kam dann eine andere Vorschrift; nämlich die, daß der Personenverkehr an den Sonntagen eingestellt wurde.

Nicht genug, daß wir von unseren Feinden hart bedrängt wurden, auch im Inneren wurden wir durch Unruhen, Aufstände und Streiks in Land und Reich bedroht. Am 31. März trat die Stuttgarter Arbeiterschaft in den Generalstreik. Dieser wurde vom Bürgertum durch einen Gegenstreik beantwortet: Beamte, Ärzte, Techniker, Rechtsanwälte, Handwerker legten ebenfalls die Arbeit nieder. Im 50 km – Umkreis ruhte auch der Post-, Telegraphen-, und Bahnverkehr. Vom Unterland war man hier fast völlig abgesperrt. Leute, die auf Reisen waren, kamen während dieser Zeit nicht oder auf ganz bedeutenden Umwegen nach Hause. Man konnte schier glauben, daß die Leute, die solche Unruhen in Szene setzen, dem Narrenhaus entsprungen seien. Denn diese Unruhestifter und Hetzer haben rein gar nichts erreicht als das, daß Menschenleben und Volksvermögen zu Grunde gerichtet wurden. Aber so was nennen manche Leute Freiheit! Wahre Freiheit ist doch die Ordnung!

Am 25. Mai wurde der neue Gemeinderat gewählt, nachdem zuvor drei Wählerversammlungen (im Ochsen, Lamm, Adler) stattgefunden hatten und in denen die Kandidaten aufgestellt worden waren.

Die Bekanntgabe der Friedensbedingungen durch unsere Feinde am 7. Mai löste im ganzen deutschen Reich einen Schrei des Entsetzens und Abscheus aus. In fast allen Städten und größeren Orten wurden Protestversammlungen abgehalten. Aber was half’s? Die von unserem tüchtigen Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau eingereichten Gegenvorschläge kamen ablehnend zurück mit einem Begleitschreiben Clemenceaus, das voller Kränkungen und Schmähungen gegen das deutsche Volk war. An diesen furchtbar harten Friedensbedingungen durften wir nichts abhandeln. Wir können sie nur als ganzes ablehnen oder annehmen. So machtlos und rechtlos waren wir. Das deutsche Volk wäre bereit gewesen, zu einem Völkerfrieden und Völkerbund seine mitschaffende Hand herzugeben. Haß und Rachsucht unserer Gegner haben diesen schönen Plan zunichte gemacht.

Die Zeitungen berichteten uns:
Paris, 28. Juni 1919: Die Unterzeichnung des Friedensvertrags begann um 3.12 Uhr und endete um 3.50 Uhr. Die deutschen Delegierten (Dr. Bell (Zentrum) und Hermann Müller (Soz.) unterzeichneten zuerst. Zwischenfälle unterblieben. Proteste wurden keine abgegeben.

Dieser Vertrag hat uns sehr geknebelt und entrechtet. Unser Vaterland liegt schwer in Schmach und Schande darnieder.
Am 21. Juni wurden in der englischen Bucht Scapo-Flow die abzuliefernden deutschen Schlachtschiffe von deutschen Matrosen versenkt, um sie nicht in Feindeshand fallen zu lassen. Diese Kriegsschiffe hätten unsere Feinde nach Unterzeichnung des Friedens schmunzelnd unter sich verteilt. Diesem unrühmlichen Ende wollten unsere Soldaten zuvorkommen und haben sich zu dieser heldenhaften Tat aufgeschwungen; es wurde zwar noch die bisher so stolze deutsche Flagge hochgezogen. Sie werden sich gedacht haben: Lieber versenkt als verschenkt! Ob dieser Tat entstand bei den Franzosen eine furchtbare Wut. Wir mußten zwar hierüber furchtbar büßen, indem wir vieles Hafenmaterial abtreten mußten.

Nachdem der schmähliche Frieden unterzeichnet war, glaubten die Leute, die Gefangene zu verzeichnen hatten, daß für diese Armen sofort die Erlösungsstunde schlagen werde. Aber auch hierin sah man sich getäuscht! Es wurde September, bis die ersten heimkehrten. Amerika und England entließen ihre Gefangene zuerst. Frankreich konnte sich erst kurz vor Weihnachten dazu entschließen. Bis der letzte Gefangene von dort heimgekehrt war, wurde es Mitte bis Ende Februar 1920.

Aus der Gefangenschaft sind zurückgekehrt:
1. Georg Göggelmann (aus englischer Gefangenschaft)
2. Jakob Iser (aus französischer Gefangenschaft)
3. Hans Göggelmann (aus französischer Gefangenschaft)
4. Jakob Falch (aus französischer Gefangenschaft)
5. Karl Startz (aus französischer Gefangenschaft)
6. Thomas Salcher (aus französischer Gefangenschaft)
7. Matthäus Maier, Schechstetten (aus französischer Gefangenschaft)
8. Jakob Groß (aus französischer Gefangenschaft), jetzt ansäßig in Schnaitheim
9. Aus Südwestafrika kehrte Emil Müller mit Frau im Monat Juni heim; er war mehrere Jahre (1905) vor dem Krieg als Polizeiunteroffizier dort tätig. Schweren Herzens hat er sich von Südwestafrika getrennt. Er hofft, daß Deutschland diese Kolonie wieder zurückerhalten möge. In Hall hat er nach längerem Warten eine Stelle am Landesgefängnis erhalten.

Als Vermißte gelten noch:
1. Georg Schleicher
2. Matthäus Häge
3. Wilhelm Häge
4. Jakob Büchele

Unseren heimgekehrten Gefangenen wurden auch Begrüßungsabende veranstaltet. Leider konnten sich die beiden Vereine (Gesang- und Kriegerverein) wegen des Lokals nicht einigen, und so begrüßte zuerst der Kriegerverein die Heimgekehrten in der „Glocke“, wo Ansprachen gehalten wurden von Pfarrer Dornfeld und Postagent Mayer (am 29. Februar 1920).
Einen ganz vergnügten Abend bereitete der Gesangverein den heimgekehrten Gefangenen im „Ochsen“ am 7. März 1920. Der Vorstand des Gesangvereins, Johannes Gebhardt, begrüßte mit folgenden Worten die Kriegsgefangene:

                                               Werte Festversammlung!
Im Namen und Auftrag des Gesangvereins entbiete ich den Mitgliedern des Vereins, sowie den anderen Mitbürgern unseres Ortes, die in langer Gefangenschaft schmachten mußten, ein herzliches Grüß Gott!
Der Gesangverein ließ es sich nicht nehmen, den Männern, die so lange ihrer Freiheit beraubt, ihren Angehörigen so fern waren, die für ihre und unsere Heimat kämpften, uns das Elend eines Kriegsschauplatzes fern zu halten hatten, die in Pflichterfüllung ihres Kriegsdienstes sich gefangen nehmen lassen mußten, und so in Feindeshand von allem, was ihnen lieb und wert war, verbaut waren, einen Abend in geselliger Unterhaltung zu widmen.
Ich erlaube mir auch zwischenhinein derer zu gedenken, die nie wiederkehren, die ihr Leben geben mußten oder mit dem Vermerk „vermißt“ auf der Liste standen und bitte die Anwesenden sich von ihren Sitzen zu erheben zum ehrenden Gedenken an dieselben.
Um zu zeigen, daß wir uns mit euch und euren Angehörigen freuen über die Wiedervereinigung und das Wiedersehen in der Heimat, wollen wir nun das für Herz und Gemüt, sowie das für den Magen Gebotene miteinander genießen und uns dabei versprechen, immer miteinander alles, was da kommen mag, zu tragen.

Hauptlehrer Hanßum begrüßte im Namen der Lehrer die so sehnsüchtig Erwarteten mit folgenden Worten:

                                                    Werte Anwesende!
Lassen Sie auch mich im Namen der hiesigen Lehrer einige Worte der Begrüßung an unsere Heimgekehrten richten.
Teure Heimgekehrten!
Nun seid ihr wieder frei. Die drückenden Fesseln sind gefallen. Endlich, endlich nach langem Harren hat für euch die Erlösungsstunde geschlagen. Jetzt seid ihr wieder in der Heimat bei den Angehörigen, bei Vater und Mutter, Bruder und Schwester.
Daß Frankreich euch so lange aus Haß und Rachgier zurückbehalten hat, das ist für Frankreich ewig Schande! Oftmals weilten unsere Gedanken bei euch; wir wollten fast vergehen vor Sehnsucht nach euch. Heiliger Zorn stieg in uns empor, als Woche um Woche, Monat um Monat dahinstrich, ohne daß ihr die Befreiung von dem lästigen Joch erhieltet. Nun seid ihr wieder unter uns. Erholt euch wieder an Seele, Geist und Leib! Wir heißen euch herzlich willkommen!

Liebe Heimgekehrten!
Noch eins. Unser Vaterland, in das ihr zurückgekehrt seid, ist nicht mehr das stolze, reiche und achtunggebietende Deutschland wie ihr es verlassen habt. Die alten Mächte sind zusammengebrochen. Die Throne sind gestürzt. Der schöne Bau des deutschen Reiches, das gewaltige Werk Bismarcks, liegt in Trümmern. Wir müssen daran gehen, aus den Trümmern ein neues Haus zu bauen. Es liegt aber noch viel Schutt herum. Kaum, daß man angefangen hat, die Grundmauern zu legen, so kommen schon Neider, Mißvergnügte, Unruhestifter,  um das begonnene Werk zu zerstören. Das darf nicht so weiter gehen! Alle müssen jetzt Hand anlegen, um Deutschland wieder aufzubauen. Unsere Losung muß heißen: Arbeit! Darum: Auf zur Arbeit am Aufbau unseres darniederliegenden Vaterlandes!
In diesem Sinn rufe ich euch, Heimgekehrten, zu: „Seid herzlich willkommen zum Aufbau unseres Heimat- und Vaterlandes“!

Möchte doch beim deutschen Volk der Geist der Ordnung und der Unterordnung wieder einziehen, damit es gesundet und wieder emporkommt!

Als dieser Satz geschrieben wurde, war es um die Pfingstzeit 1920 (23./24. Mai). Wohin man blickt – auf Flur und Au – ist ein großer Segen zu sehen. Es ist ein Jahr der Fülle zu erwarten. Die Obstbäume zeigen durchweg einen vielversprechenden Ansatz. Das Korn steht gut im Halm Die Kleeäcker stehen recht schön. Wenn so ein „Pfingstsegen“ in irdischen Dingen zu sehen ist, da sollte es an dem Geist der Einmütigkeit nicht fehlen. Wir sollten aus Dankbarkeit für das umsonst gebotene gute Wachstum und die Fülle der Gottesgaben einig werden untereinander und in Stunden der Gefahr den Rütli-Schwur erneuern: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr; wir wollen frei sein, wie die Väter waren; lieber den Tod als in der Knechtschaft leben“. Nur dieser Geist der Einigkeit kann uns erlösen aus dem Druck, der auf uns lastet.
Gott gebe, daß wir bald einer besseren Zukunft entgegengehen!

Hauptlehrer Robert Hanßum